Maja Göpel: Klimaschutz vs. Wirtschaft

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Auf ihrer Webseite skizziert sich Maja Göpel so:

Prof. Dr. Maja Göpel ist Politökonomin, Expertin für Nachhaltigkeitspolitik und Transformationsforschung, Autorin, Rednerin, Beraterin (auch der Bundesregierung – Red.), Hochschullehrerin und Mitbegründerin Scientists4Future

Weiter liest man:

Mit 14 begann ich der Frage nachzugehen, warum wir als Gesellschaft nicht die Welt schaffen, die wir uns als Individuen wünschen. Dabei habe ich gelernt, dass Politik kein staatliches Gegenüber, Märkte nicht neutral und Demokratie mehr als Stimmabgabe sind.

Nachhaltige Zukünfte entstehen durch gemeinschaftliche Lernprozesse, verbindliche Regeln und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese mit Ehrfurcht für Leben, Klarheit in Gedanken und Fokus auf Selbstwirksamkeit anzugehen ist Ziel meiner Arbeit in Theorie und Praxis.

Gerade in Transformationszeiten wie heute helfen der Blick für das Wesentliche und mutige Menschlichkeit. Die haben wir alle in uns.

Im Mai 2020 rezensiert FAZ-Redakteurin Jessica von Blacekovic das aktuelle Buch von Maja Göpel wie nachstehend zitiert. Der Nr.-1-Bestseller, »das Buch der Stunde« sagt ARD, ttt .
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ISBN-10 : 355020079X ISBN-13 : 978-3550200793
Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel plädiert für ein anderes Wirtschaften. Unter dem Eindruck der Corona-Krise erscheinen viele Passagen ihres aktuellen Buchs als treffende Bemerkungen zur derzeitigen Lage.

Maja Göpel – Politökonomin, Nachhaltigkeitsforscherin und Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen – hat ihr Buch eigentlich als Plädoyer für eine Generalüberholung unseres Wirtschaftssystems geschrieben. Angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen und des unerbittlich fortschreitenden Klimawandels müssten wir einer neuen Realität ins Auge blicken: „Während der Menschheit lange sehr viel Planet für wenig Mensch gegenüberstand, gibt es heute für immer mehr Menschen immer weniger Planet.“

So weit, so bekannt. Überhaupt erzählt Göpels Buch keine bahnbrechenden Neuigkeiten, sondern ist vielmehr der gelungene Versuch, Menschheitsgeschichte von der Evolution des Homo sapiens bis zu Greta Thunberg, ökonomische Theorie von Adam Smith bis Thomas Piketty, Umweltforschung und Systemkritik auf knappem Raum in eine kurzweilige Lektüre zu verpacken – und das macht sie gut. Vorsicht ist trotzdem und eben deshalb angebracht. Manches ist eben viel komplizierter, als sich in wenigen Zeilen erklären oder mit einer Anekdote beleuchten lässt.

Mit ihrer Überzeugung, dass sich unsere Lebens- und Wirtschaftsweisen grundlegend ändern müssen, hält Göpel nicht hinterm Busch. Glühende Verfechter des Liberalismus und der Marktwirtschaft wird sie mit ihrem Buch wahrscheinlich nicht erreichen. Unter dem Eindruck der Coronavirus-Pandemie erscheinen viele Passagen ihres Buchs aber als treffende Bemerkungen zur aktuellen Lage. „Was zum Beispiel“, fragt Göpel, „brauchen wir denn unbedingt, wenn wir gut versorgt sein wollen?“ Sie nennt Nahrung, Trinkwasser, Behausung, Energie, Gesundheitsversorgung und Bildung. Und sind es nicht genau diese Bereiche, die derzeit als „kritische Infrastruktur“ bezeichnet werden? Führen wir nicht aktuell eine Debatte darüber, ob sich Deutschland im Notfall selbst mit Lebensmitteln versorgen kann, wie rasch Millionen Atemschutzmasken bereitgestellt werden können, dass Kinder aus prekären Verhältnissen Gefahr laufen, schulisch abgehängt zu werden?

Später im Buch schreibt Göpel: „Wir leben in krisenhaften Zeiten, und in Krisenzeiten ergibt es sehr viel Sinn, nicht mehr auf das zu starren, was wir individuell verlieren könnten. Da fokussieren wir uns auf das, was durch ein gemeinsames Nutzen vorhandener Ressourcen möglich ist.“ Auch das trifft die aktuelle Lage: Weltweit werden Kräfte gebündelt, um einen Impfstoff gegen das neuartige Virus zu entwickeln, Patienten aus Italien und Frankreich werden zur Behandlung nach Deutschland gebracht, Unternehmen stellen ihre Produktion auf Hilfsgüter um.

Gleichzeitig greift der Staat so tief in seinen Instrumentenkasten, wie die meisten von uns es vermutlich noch nie erlebt haben. Auch hier bietet Göpels Buch ein passendes Zitat, nämlich von John Maynard Keynes: „Die wichtigsten Agenden des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft.“ Klimaschützer würden sich den derzeit zu beobachtenden Aktivismus der Regierungen wohl auch in der Klimakrise wünschen.

Doch weil diese viel abstrakter ist als die Corona-Krise, war es bislang schwer vorstellbar, wie „das Förderband, mit dem wir Umwelt in Wohlstand umwandeln“, sich entschleunigen könnte. Mit dem durch das Coronavirus ausgelösten abrupten Stillstand der Produktion geschieht das gerade unfreiwillig – mit sichtbaren Auswirkungen auf die Umwelt: Deutschland wird, was bislang unmöglich schien, dank des Corona-Shutdown seine Klimaziele 2020 erreichen.

Optimistische Menschen hoffen nun, dass diese Effekte keine Eintagsfliegen sind, dass sich die Menschen in der sozialen Distanz und der Abstinenz von Konsum und Fernreisen darauf besinnen, was sie für ein glückliches Leben wirklich brauchen. Wäre da nicht der „fiese Montag“. So bezeichnet Göpel in ihrem Buch das Phänomen, das jeder schon einmal erlebt hat: Nach einer inspirierenden Veranstaltung oder einem einschneidenden Erlebnis will man voller Schwung und Tatendrang ein Problem angehen, nur um sich in festgefahrenen Routinen wiederzufinden – „und alles ist wie immer“. Ohne es antizipiert haben zu können, ist Maja Göpels Buch eine Einladung dazu, es nach der Corona-Krise nicht zu einem fiesen Montag für den Planeten kommen zu lassen.

Das FAZ-Interview von Georg Meck

Am 19.8.2020 erschien der nachfolgend zitierte F.A.S.-Beitrag, der bei vielen Lesern zu Irritationen geführt hatte. Maja Göpel hatte jedoch Fassung bewahrt trotz teilweise stupid erscheinender Fragen des FAS-Redakteurs.

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Die Umweltaktivistin und Regierungsberaterin Maja Göpel kämpft gegen Überflussgesellschaft und Klimawandel.
Hier streitet sie mit F.A.S.-Redakteur Georg Meck über ihre Vorstellung von Okonomie: Was ist Wohlstand? Und wie viel davon können wir uns
leisten?

Frau Göpel, geht die Welt bald unter?

Die Welt bleibt bestehen, sie wird nur sehr anders aussehen, wenn wir unser Verhalten nicht fundamental ändern. Eines vorneweg: Ich bin keine Naturwissenschaftlerin, sondern Gesellschaftswissenschaftlerin. Aber durch das interdisziplinäre Arbeiten kenne ich natürlich die Beobachtungen und Modellierungen und nehme die sehr ernst. Und die Folgen des Klimawandels sehen wir doch schon jetzt, angefangen mit der Bodentrockenheit.

Können wir uns darauf einigen: Der Klimawandel ist ein ernstes Problem, Hysterie führt aber zu nichts.

Dieses Framing mit der Hysterie nehme ich nicht an, weil es allen, die für Klimaschutz eintreten, Irrationalität unterstellt. Klar, wir werden nicht aussterben in den nächsten 150 Jahren, aber die Lebensbedingungen verschlechtern sich rasant. Die Frage ist, wie viele Menschen dann wie überleben und leben. Klimapolitik ist für mich eine starke ethische und soziale Frage: Was nehmen wir jetzt für uns heraus, wofür die armen Menschen in anderen Regionen und die nächsten Generationen die Konsequenzen tragen müssen? Das Wissen, um zu handeln, ist ausreichend da, da können wir uns nicht mehr drücken mit Argumenten, „der Markt“ oder „die Leute“ stünden dagegen.

Der Ausweg wäre eine “Ökodiktatur”, wollen Sie das wirklich?

Ach, Unsinn. Wenn es Aufgabe der Politik ist, die Lebensgrundlagen zu bewahren, dann hat sie sich komplett dafür einzusetzen und nicht vor jeder Meinungsumfrage und Lobbydrohung zu kuschen. Corona hat gezeigt, was an konsequentem Handeln möglich ist, wenn die Legitimität des Handelns entsprechend dargelegt und begründet wird. Und so radikale Maßnahmen fordert ja niemand aus der Klima- und Nachhaltigkeitsbewegung. Da gehe es darum, Strukturwandel zu gestalten.

Corona war aus Ihrer Sicht eine feine Sache: Das Land stand still, die Wirtschaft schrumpft, das hilft dem Klima.

Nein, das Virus ist überhaupt nicht fein. Diese Argumentation ist eine absichtliche Verfälschung von dem, was
wir angeblich sagen. Noch mal: Es ist keine Hysterie, wenn wir nach 40 Jahren zunehmender Nachweise und deklarierter Ziele darauf dringen, diese endlich mal ernst zu nehmen. Fänden Sie Nahrungskrisen, Temperaturen über 40 Grad, regelmäßige Wasserknappheit, zunehmende Unwetter wünschenswert?

Es gab schon viele Untergangsprophezeihungen, angefangen mit dem Club of Rome in den siebziger Jahren, zum Glück ist nichts davon eingetreten: Die Bodenschätze sind nicht erschöpft, es sind keine vier Millarden Menschen an Ökokatastrophen gestorben, wie für 2010 prophezeit wurde.

Der Club of Rome hat keine exakten Jahreszahlen genannt, wann welcher Rohstoff zur Neige geht, sondern zwölf systemische Szenarien geschildert, wie fünf Trends, Bevölkerungswachstum, industrielle Aktivität, Verschmutzung, Ressourcennutzung und Landnutzung für Nahrungsmittel, aufeinander einwirken und ohne Abschwächung ihrer Steigerungskurven erst zur Übernutzung und dann zum Kollaps in Produktion und Lebensstandards führen werden. Ubernutzt sind alle Ökosysteme, erzwungene Migration nimmt zu, das ist also bereits eingetreten, im Gegensatz zu den Prognosen der Ökonomen, die schon mit dem Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr überfordert sind.

Hat der Club of Rome nicht davor gewarnt, dass bald der letzte Tropfen Erdöl fließt?

Das stimmt nicht. Die Aussage war: Die einfach zu erreichenden und qualitativ hochwertigen Ressourcen verschwinden, und damit werden die physischen und ökonomischen Kosten sehr hoch, Investitionen fehlen dann an anderer Stelle. Wichtig ist, dass hier nicht mit historischen Geldbeträgen gerechnet wurde, sondern mit dem Aufwand, “Energy Retum Of Invest” (EROI) ist der Fachbegriff dafür. Das ist die grundlegende physikalische Währung: Es bedarf mehr energetischen Aufwands zur Gewinnung einer Ressource, als dann aus der Ressource für den Verwertungsprozess gewonnen wird. Das ist unökonomisches Wachstum. Würden wir also mit Realwerten bilanzieren, dann würde jeder Kaufmann das lassen.

Vor kurzem war das Überangebot an Öl so groß, dass der Preis sogar negativ wurde.

Das ist eben die rein monetäre Betrachtung, und der Grund für den Preisverfall war nicht der Markt, sondern geopolitische Machtspiele.

Angebot und Nachfrage hatten sehr wohl Einfluss: Dank Fracking, also aus dem Gestein geholtem Schiefergas, braucht die Welt weniger Erdöl.

Danke. Ein perfektes Beispiel für einen absolut negativen EROI. Es braucht viel Energie, Wasser, Chemikalien, Zerstörung von biologischer Oberfläche, um im Frackingverfahren Öl zu gewinnen. Hier sagen die Preise nicht die Wahrheit, und Trump hat viele Umweltauflagen erst mal dafür abschaffen müssen. Der Punkt ist: Sobald wir systemisch denken, erkennen wir deutlich, dass wir nicht alle Rohstoffe aus dem Boden holen können, wenn wir dabei die Erdkruste komplett aufreißen und damit die nun mal darauf stehenden Ökosysteme zerstören. Deshalb schreit es aus allen ökologisch informierten Studien: Ihr müsst aufhören, noch mehr Flächen umzumodeln, sonst
kracht die Biodiversität weg. Und das ist nicht nur gefährlich, das ist auch extrem teuer. Wir machen uns viel zu wenig klar, was die Natur uns an Dienstleistungen zur Verfügung stellt und was es uns kosten würde, diese Aufgaben zu übernehmen, falls wir es überhaupt könnten.

Sie spielen auf die ökonomischen Verdienste der Bienen an, wenn sie die Blüten bestäuben.

Genau, und stellen Sie sich vor: Die tun das umsonst. Müsste das der Mensch mit Hightech-Drohnen erledigen, gingen zwar – zack – das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, hoch, aber wir würden ein resilientes und regeneratives in ein fragiles, mechanisches Bestäubungssystem verwandeln. Das zeigt: Das BIP ist kein nützlicher Maßstab für unser Wohlergehen. Wenn Ökosystem oder Insekten irreversibel weg sind, kann ich so viel Geld drucken, wie ich will, die kommen nicht wieder. Die Ökonomen sollten sich deshalb in Demut üben. Nicht jedes Gut, nicht jede Dienstleistung ist geeignet, mit dem Marktmechanismus organisiert zu werden.

Die Ökonomen sind doch demütig, indem sie die Natur, an der kein Preisschild hängt, als sogenannte externe
Effekte in die Kalkulation mit einbeziehen: Was der Umwelt schadet, wird dadurch teurer.

Bis zu einem gewissen Ausmaß ist das wichtig, und ich hoffe, dass alle Ökonominnen auf die schnelle und ausreichend hohe Einführung vor Preissignalen dringen. Häufig wird dann aber argumentiert, dass das nicht geht, weil der Konsum dadurch gedämpft wird und damit das Wachstum. Das ist ja aber das Ziel der Signale, solange keine Alternativen vorhanden sind! Und der Preismechanismus hat massive soziale Wirkungen in immer ungleicheren Gesellschaften mit einem – dank der Zentralbanken – Überfluss an Geld in den Händen weniger. Ich kriege viele Briefe, in denen steht:

Den Reichen ist es doch egal, wenn der Flug wegen des Klimas das Doppelte kostet.

Die steigen trotzdem ins Flugzeug. Dazu kommt der ganze Statuskonsum.

Was bitte schön ist das?

Berühmtes Beispiel ist der rare Blauflossen-Thunfisch, auch Sushinomics genannt. Der ist so selten geworden, da kostete 2013 der erste Fisch der Saison 2 Millionen Dollar. Gibt es deswegen keine Nachfrage mehr? Nein, im Gegenteil: Die Megareichen kaufen ihn jetzt erst recht und wetteifern darum. Diese Art Statuskonsum sehen wir in vielen Ländern, deswegen versagt der Preismechanismus zum Klimaschutz zumindest bei denen, die viel Geld haben. Gerechter, ökologisch effektiver und extrem innovationsfördernd wäre es zu sagen: Jeder hat ein bestimmtes Kontingent an CO2 oder anderen begrenzten Ressourcen, also Unweltliberalismus.


Sie treffen mit Ihrem Buch gegen die Wohlstandsgesellschaft offenbar einen Nerv. Die Menschen haben sich in Corona-Zeiten damit angefreundet, dass es mit weniger Konsum, weniger Reisen, weniger Arbeit geht. Hält diese Stimmung, wenn die Pandemie halbwegs überstanden ist?

Der Bewusstseinswandel hatte sich ja vorher schon angebahnt, die Debatte darüber, ob das mit dem Wachstum ewig so weiter gehen kann. Produktivitätssprünge, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, bleiben aus, wie etwa die Verbreitung elektrischer Haushaltsgeräte, die das Wachstum beflügelt haben, weil dadurch auch die Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen. Solche Sprünge sehen wir heute nicht mehr, auch nicht in der digitalen Revolution. Auf der anderen Seite verzweifeln immer mehr Leute an der Logik des Finanzkapitalismus. Ich habe viele Menschen in der Familie, die in Pflege und Medizin arbeiten. Wenn denen ein BMWler den hippokratischen Eid zerschießt, weil er die Quartalszahlen als zu gering geißelt, dann macht das was mit den Leuten. Das sehen wir genauso bei Kindergärten, Sozialdienstleistern, Bauern oder Ingenieuren, die gerne bessere, länger haltbare Geräte und Autos bauen würden, als es die Profitmaximierung der Konzerne vorschreibt. So bekommen viele Leute das Gefühl, dass die Wachstumsforcierung die Qualität wie auch die Wertschätzung ihrer Leistung reduziert. Das empfinden sie als Beleidigung für ihr Berufsethos – das ist tragisch und sollte sicher nicht unter “Fortschritt” firmieren.

Sie kritisieren, dass der Preis für ein Gut nichts mit dessen Wert zu tun hat, er nicht ausdrückt, was an Arbeit und Ressourcenverbrauch drinsteckt.

Nicht bei allen Gütern, aber bei vielen.

Der Preis ergibt sich aber nun mal aus Angebot und Nachfrage: Ein und dieselbe Flasche Mineralwasser ist im
Spitzenrestaurant viel teurer als im Getränkemarkt, und in der Wüste kostet sie noch mal ein Vielfaches. Wie wollen Sie das ändern? Welche höhere Instanz soll die Preise festlegen, wenn nicht der Markt?

Eine Flasche Wasser Ist nicht zu vergleichen mit Gütern wie die Gesundheit.

Wollen Sie sagen, im deutschen Gesundheitssektor herrschen die Gesetze des Marktes?

Das System mit den Fallpauschalen und Renditeversprechen in zweistelliger Höhe unterwirft die Kliniken jedenfalls ökonomischer Ertragslogik. Mit verheerenden Folgen. In München und Hamburg haben Kinderstationen zugemacht, weil Kinder länger dauern, die Fallpauschalen sich fürs Krankenhaus nicht rechnen. Und es verstärkt die Zwei-Klassen-Medizin zwischen wenigen Privatpatienten und vielen gesetzlich Versicherten. Wenn ich als Ärztin so praktizieren muss, habe ich den Eindruck, ich verrate jeden Tag meine Berufung. Preise entstehen immer innerhalb von Rahmenbedingungen, sind deshalb immer auch politisch.

Im Ernst?

Das sagen alle. Sogar 27 Nobelpreisträger für Ökonomie verlangen eine Steuer – in Amerika – auf CO2, weil der Klimawandel das größte Marktversagen der Geschichte ist. Der zweite Grund, warum die Politik gefordert ist, ist die Zeit: Nur der Staat kann antizipativ handeln. Auch das ist eine Lehre von Corona. Wir reagieren zu spät. Erst wenn die Symptome hart im Alltag einschlagen, verspüren wir den Impuls: Hoppla, wir müssen etwas ändern. Das macht es so gefährlich in der Klima- und Umweltpolitik, aber eben auch bei Infektionen: Ist ein bestimmter Kipppunkt erreicht, lässt sich die Entwicklung nicht umkehren und nimmt exponentiell zu. Dies zu antizipieren und einzugreifen, um Gefahren abzuwenden und Risiken abzumildern, das kann nur die Politik leisten.

Und deshalb soll der Staat die Preise festlegen? Der Markt hat ausgedient?

Jetzt galoppieren Sie schon wieder in das andere Extrem. Ich spreche von Ordoliberalismus. Außerdem haben wir
doch in vielen Bereichen keinen freien Markt. Nehmen Sie nur die Lebensmittelindustrie. Die Idee, dass Angebot und Nachfrage sich dort aktuell frei einpendeln könnten, ist doch absurd.

Wir haben jede Menge Supermärkte.

Nein. Wir haben wir vier große Konzerne, die den Großteil des Handels organisieren: Aldi und Lidl, Rewe und Edeka. Die üben massiven Druck auf die Lieferanten aus, bestimmen, welche Preise sie bezahlen, und liefen sich auch mal Preiskämpfe untereinander. Fragen Sie mal die Bauern! Im Fall von Bananen hat das neulich für Anbieter aus dem globalen Süden zu erheblichen Problemen geführt, und auch die Politik spricht ja nun von Dumpingpreisen im Lebensmittelbereich. Interessant ist dabei, dass unter den fünf reichsten Deutschen drei Familien im Lebensmittelhandel aktiv sind.

Glauben Sie, die Kuh hätte es beim Kleinstbauern zwingend besser? Es ist nicht gesagt, dass die Vorschriften zu Hygiene und Tierwohl dort besser eingehalten werden.

Richtig, natürlich geben die großen Massentierhalter eine bessere Angriffsfläche her. Ich habe selbst mal im Campaigning für NGOs gearbeitet, da greift man immer die großen Namen an, weil die an Reputation zu verlieren haben. Deswegen ist das Lieferkettengesetz so wichtig: Die großen Marken sind dann für die gesamte Wertschöpfungskette verantwortlich.

Haben Sie kein Vertrauen in die Macht der Kunden? Die können boykottieren, was ihnen nicht passt, wenn sie wirklich so ökobewegt sind, wie sie in Umfragen sagen.

Die Konsumentenmacht ist nicht annähernd so groß wie die Marketingmacht der Konzerne, die Unmengen Geld ausgeben, um Trends und Wahrnehmung zu setzen und Bedürfnisse zu schaffen. Sie kennen doch die Plakate: “Außenwerbung trifft jeden.”

Die Leute werden von der Werbung perfide zum Konsum verführt? Und deswegen müssen Sie die Menschheit zum Verzicht bekehren?

Ich kläre als Wissenschaftlerin erst einmal auf. Das ist unser Job. Und es geht auch nicht stumpf um Verzicht, sondern um Transparenz über die Folgen unseres Handelns und damit Verantwortung dafür, wie meine Entscheidungen sich auf andere auswirken. Wie soll sonst soll eine liberale Gesellschaft funktionieren? Mit Freiheit kommt Verantwortung. Gerade ältere Menschen, die noch echten Mangel erlebt haben, melden sich bei mir, völlig fassungslos, dass heute beim Thema reduzierten Konsums immer das Wort Verzicht gebraucht wird. Es ist doch offensichtlich, dass es so nicht weitergeht mit der Übernutzung der Natur und dass viele Dinge viel langlebiger sein könnten.

Wir brauchen für ein gutes Leben nicht alles, was wir kaufen.

Und wer bestimmt, was notwendig ist und was nicht? Wer sagt zum Beispiel unserer Tochter, dass sie nicht schon
wieder neue Sneakers braucht?

Vielleicht Sie? Oder sie käme selbst drauf, wenn die Preise die ökologische und soziale Wahrheit sagen würden. Oder wenn wir Datenschutz umsetzten, so dass Online-Räume nicht zu Propagandaflächen werden. Werbetreibende können durch die vielen, vielen persönlichen Daten sehr genau unsere Befindlichkeiten und Stimmungen einschätzen und so hübsch passgenau die Produkte und Botschaften einblenden, die dazu passen. Ich habe meine Diplomarbeit zu integrierter Markenkommunikation geschrieben; hier von natürlichen Bedürfnissen zu sprechen ist naiv.

Jeder kann doch für sich entscheiden, was ihm zum Glück fehlt. Und wenn er unbedingt ein iPhone begehrt, dann spricht das nur für die Kraft der Marke Apple. Was ist daran verkehrt?

Nichts, würde ein Konzern wie Apple in seine Bilanz auch reinrechnen, was sozial und ökologisch angefallen ist. Positiv wie Negativ. Und ganz ehrlich: Im Zweifel kann die Menschheit auch ohne viele der neuesten digitalen Smartlösungen leben.

Bequemer ist es mit: Ich erfahre jederzeit, wann und wo die nächste S-Bahn zum Bahnhof fährt.

Klar, es ist ja auch toll, wenn alle machen können, was sie wollen. Es sagt ja auch niemand in der ökologischen Bewegung: Hurra, wir müssen uns einschränken. Ich wäre heilfroh, wenn wir die ökologischen Probleme nicht hätten, sofort würde ich mich hinstellen und sagen: Shoppt, bis es kracht! Solange die Tier- und Menschenrechte geschützt sind! Aber in unseren Externalisierungsgesellschaften riskieren wir das Überleben auf dem Planeten, obwohl die Menschen hier nachweislich nicht mehr glücklicher werden von mehr Konsum.

Wer Ihnen zuhört, muss denken: Alles wird immer schlimmer, die Menschheit geht den Bach runter. Dabei leben wir so lange, so gesund und in so viel Wohlstand wie nie, selbst mit dem Umweltschutz geht es voran: In Flüssen wie der Isar kommen wir wieder schwimmen!

Ich glaube nicht, dass Sie mir richtig zugehört haben. Sich für zukünftige Trends zu interessieren bedeutet weder,
bisher Erreichtes nicht wertzuschätzen, noch Fatalismus. Es bedeutet ehrlich und antizipativ die gesamten Rahmenbedingungen anzuschauen. Ich kenne diese Argumentation von Rosling, Pinker oder McAfee, wonach alles immer besser wird. Leider sind sie auf dem ökologischen Auge blind.

Der Stanford-Ökonom McAfee schreibt in seinem neuen Buch: Unser ökologischer Fußabdruck wird kleiner, dank technologischem Fortschritt und Kapitalismus.

Steile These.

Wohltuend nüchtern und optimistisch, obendrein mit Zahlen belegt.

Ja, ganz nüchtern eine jahrzehntelange Debatte in der Ressourcenforschung ignorierend. Er verwendet die lange kritisierte Messgröße des nationalen Ressourcenkonsums (Domestic Material Consumption) und damit sehen reiche Länder sehr fortschrittlich aus. Nur haben gerade die so gut dastehenden Länder viele dreckige Produktionsschritte ins Ausland verlagert. Das zeigt die Lebenszyklusanalyse oder die Messgröße für den gesamten Ressourcenaufwand (Total Material Requirement). Und darüber hinaus macht McAffee genau das, was ich oben schon beim Fracking erklärt habe: Er schaut sich primär die Verfügbarkeit von Materialien an. Aber die Ökosysteme, also zum Beispiel Landnutzungsmuster, Wasserkreisläufe, Biodiversität, Ozeanversäuerung, also all das, was im Zweifel vom An- und Abbau der Materialien negativ beeinträchtigt wird, kommen bei ihm nicht vor. Ich empfehle hier mal die ganz nüchterne Lektüre des Wissenschaftlers Jason Hickel, der nimmt die favorisierten Datensätze hinter diesen Analysen regelmäßig unter die Lupe.

Sie leugnen den Segen des technischen und medizinischen Fortschritts, wollen zurück zur Natur, in eine heile Welt, die so nie existiert hat.

Ich finde die polemisierenden Unterstellungen in ihren Fragen wenig hilfreich für eine ernsthafte Suche nach Lösungen. Das sagt doch keiner.

Es klingt aber so.

Alles, was wir sagen, ist: Schaut euch an, was wir an Ressourcen auf der Welt haben, wie sie sich regenerieren und
welche Innovationen uns helfen, vernünftig mit ihnen umzugehen. Dabei geht es aber eben nicht nur um Technik, sondern auch um soziale und kulturelle Innovationen. Außerdem lohnt es sich immer mal wieder zu fragen, welche Ziele wir eigentlich erreichen wollen und warum. Denn weder ist jede Technologie ein Segen, noch ist BIP-Wachstum immer das gleiche wie Fortschritt. In der aktuellen Orientierung an kurzfristigem Finanzreturn zum Beispiel finden wichtige Erfindungen und Lösungen, insbesondere die, von denen die ärmsten Menschen am meisten profitieren würden, keine Verbreitung.

Wachstum geht nicht unbedingt mit Naturverbrauch einher: Gehen wir doppelt so oft zum Friseur, steigt das BIP, ohne die Natur zu tangieren.

Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Sie sich Dinge gönnen, die wenig Natur zerstören. Aber auch hier werden Sie erkennen, dass ein Festhalten an Wachstum als Ziel wenig sinnvoll ist. Eine zunehmende Dienstleistungsorientierung wird genau als Grund angeführt, warum materiell gesättigte Volkswirtschaften langsamer wachsen.

Neomarxisten haben schon vor Jahrzehnten gepredigt: Auf einem endlichen Planeten kann es kein unendliches ökonomisches Wachstum geben. Bisher deutet nichts darauf hin, dass sie recht haben.

Warum finden Sie es eigentlich so schrecklich, wenn bei gleichbleibender Bevölkerung die Wirtschaft nicht wächst? Analytisch betrachtet, ist es doch nur ein mögliches Mittel zur Erreichung übergeordneter Ziele wie der Wohlfahrtssicherung. Und die gute Nachricht ist doch: Die Lebensqualität lässt sich auch unter Beachtung der Ökologie steigern. Zeitwohlstand ist da ja nur ein Begriff, der auch durch Corona stärker diskutiert wird. Ob das BIP dann steigt oder nicht, ob wir es dafür völlig anders messen sollten oder nicht, das sollten wir der Empirie und nicht der Ideologie überlassen.

Das erzählen Sie mal in Stuttgart: Wachstum wird abgesagt, Daimler und Porsche produzieren keine neuen Autos mehr. Das gäbe Aufstände.

Hier verwechseln Sie Wachstum als volkswirtschaftliche Kennzahl mit der Herstellung bestimmter Produkte. Eine Volkswirtschaft, in der keine Produkte abgeschafft werden dürfen und keine Unternehmen pleite gehen dürfen ist eine Planwirtschaft und kann sich in einer sich rasant entwickelnden Welt nicht behaupten. Wenn es Ihnen um die Menschen geht: Auch da sollten wir weniger über Autos und mehr über Jobs sprechen. Über Einkommen, Neuorientierungen, Übergangslösungen und in einigen Fällen auch um Identitäten, Gestaltung von Strukturwandel. Der ist eine große Herausforderung, aber gestaltbar.

Polemisch formuliert: edler wäre es für die Arbeiter, keine Motoren mehr zu bauen, sondern Gedichte zu schreiben. Nur: Können die das alle? Und wer ist bereit, für diese Lyrik zu bezahlen?

Verzeihung, diese Argumentation ertrage ich nur schwer. Warum schalten gerade diejenigen, die auf Wachstum und Fortschritt pochen, den Innovationsgeist aus, wenn es gilt, über fundamentale Änderungen nachzudenken? Wenn wir jetzt acht Milliarden Menschen sind und nicht mehr zwei, da muss doch jeder einsehen: Die alten Antworten, Lösungen und Grabenkämpfe passen nicht mehr. Es gibt keine Jobs auf einem toten Planeten – so hat es der internationale Gewerkschaftsbund zusammengefasst. Und historisch betrachtet gab es kaum bessere Anlässe für Konflikte als Ressourcenknappheit. Wie können wir also unser ökonomisches System anpassen an eine komplett neue Realität? Oder was ist Ihre Antwort? Sorry Kinder, eure Eltern waren nicht bereit, noch mal was Neues zu lernen, und dafür sauft ihr jetzt ab?

Im ersten Schritt würden Sie schon mal die SUVs abschaffen.

SUVs sind die Form von individueller Mobilität mit den höchsten Nebenkosten. Und die werden auf andere abgewälzt: Zu groß für bisherige Spurbreiten und Parklücken, blockieren sie viel mehr öffentlichen Raum und das
Durchkommen anderer, sie sind schwerer und zerstören damit auch die Straßen schneller, für die Steuerzahler aufkommen, die Effekte eines Zusammenpralls mit menschlichen Körpern sind größer, und ökologisch schneiden sie schlechter ab als kleinere Wagen. Klar würde ich diese Mobilitätsform als erste abschaffen. Die Japaner nennen diese Logik übrigens das Toprunner-Prinzip.

SUV-Fahrer sind böse Menschen, so viel steht fest?

Diese Frage ist mir zu doof.

Was gehört für Sie zu einem ökologisch vertretbaren Lebensstil?

Ein zukunftsfähiger Lebensstil folgt dem kategorischen Imperativ: Konsumiere so, wie du es dir von anderen wünschst.

Ihre kleinen Töchter, 5 und 8 Jahre alt, gehen mit gutem Beispiel voran und sind schon Vegetarier. Alles Erziehungssache?

Nein, das ergab sich ohne unser Zutun. Die Mädchen sind erfüllt von ihrer Tierliebe, deswegen essen sie kein Fleisch – außer Grillwürstchen.

Twitter-Nachsatz

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